- Realismus in der Literatur: Wirklichkeitstreue und Idealisierung
- Realismus in der Literatur: Wirklichkeitstreue und IdealisierungDas Scheitern der Revolution von 1848/49 führte zu einem einschneidenden Wandel in der deutschen Literatur. An die Stelle des Kampfes um nationale Einheit, Demokratisierung und Verbesserung sozialer Verhältnisse, den die Autoren durch Gedichte und Pamphlete vorbereitet und unterstützt hatten, trat nach einer Phase der Resignation und Ernüchterung die Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Realität. Literatur und Politik gingen dabei ähnliche Wege, sodass die Forderung nach »Realismus« ein gemeinsames Anliegen literarischer und politischer Programme wurde. Der Begriff des »bürgerlichen Realismus« charakterisiert in diesem Sinne die wirklichkeitsorientierte Weltsicht zwischen 1848 und 1890 und grenzt sie von radikalen und sozialistischen Konzeptionen ab. Theodor Fontane, einer der wichtigsten Vertreter der neuen Literaturauffassung in Deutschland, erläutert den pragmatischen Realismusbegriff in seinem 1853 veröffentlichten Aufsatz »Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848« wie folgt: »Was unsere Zeit nach allen Seiten hin charakterisiert, das ist ihr Realismus. Die Ärzte verwerfen alle Schlüsse und Kombinationen; sie wollen Erfahrungen; die Politiker (aller Parteien) richten ihr Auge auf das wirkliche Bedürfnis und verschließen ihre Vortrefflichkeitsschablonen ins Pult. Dieser Realismus unserer Zeit findet in der Kunst nicht nur sein entschiedenstes Echo, sondern äußert sich vielleicht auf keinem Gebiet unseres Lebens so augenscheinlich wie gerade in ihr«.Die Literatur des Realismus wollte die gesellschaftliche Wirklichkeit aber keineswegs nachahmen wie die Fotografie, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts ausbreitete und von vielen Schriftstellern skeptisch oder ablehnend beurteilt wurde. Im Mittelpunkt der meisten literarischen Programme stand vielmehr die Forderung nach einer idealisierten Darstellung der Wirklichkeit. Die Literatur sollte nicht die äußere Welt abbilden, sondern ihre inneren Zusammenhänge darstellen. In diesem Sinne hat der Schriftsteller Otto Ludwig den Begriff des »poetischen Realismus« geprägt, um die Eigenständigkeit der Poesie gegenüber der Wirklichkeit zu betonen. »Der Begriff des poetischen Realismus«, so schreibt er in Abgrenzung zu einem programmatischen Begriff der nachfolgenden Epoche, »fällt keineswegs mit dem Naturalismus zusammen. Es handelt sich hier von einer Welt, die von der schaffenden Fantasie vermittelt ist, nicht von einer gemeinen; sie schafft die Welt noch einmal, keine fantastische Welt, das heißt keine zusammenhanglose, im Gegenteil, eine, in der der Zusammenhang sichtbarer ist als in der wirklichen«.Diese stark künstlerisch geprägte Auffassung einer realistischen Schreibweise führte zur Ablehnung der politischen und reflexiven Literatur des Vormärz. Das zeigen vor allem die Beiträge in der seit 1848 erscheinenden Zeitschrift »Die Grenzboten«, in denen der Literaturhistoriker Julian Schmidt und sein Mitherausgeber, der Schriftsteller Gustav Freytag, das Programm einer realistischen Literatur entwickelten. »Die deutsche Literatur«, so schreibt Schmidt 1851 in einem seiner Beiträge, »ist vornehmlich in der Tendenz steckengeblieben, weil sie ihre Grenze überschritten hat. Sie glaubte ihr Gebiet zu erweitern, wenn sie vom Schönen abging. Es ist also eine Reaktion, eine Rückkehr zum Schönen, und ein Aufgeben der anatomischen Reflexionstätigkeit notwendig«.Die erzählende Prosa wurde zur wichtigsten Gattung des Realismus, weil sie für die Darstellung größerer Zusammenhänge die besten Voraussetzungen lieferte. Das Drama hatte kaum Bedeutung, wenn man von Friedrich Hebbels »Maria Magdalene« (1844) absieht, der ersten und später viel gespielten kleinbürgerlich-proletarischen Tragödie in Deutschland. Die Lyrik spielte allenfalls am Rande eine Rolle. Doch verstärkte die Forderung nach einer idealisierten Darstellung der Wirklichkeit in den Programmen des Realismus die Tendenz zur Subjektivierung des Erzählens. Thematische und regionale Begrenzungen, eine überhöhte Symbolsprache und die humoristische Relativierung der Darstellung waren die Folge. In der Bevorzugung bestimmter Prosaformen kommt diese Tendenz zum Ausdruck: der Novelle, die zur Ausschnitthaftigkeit des Geschehens neigt, der Dorfgeschichte mit einer überschaubaren Szenerie und des Entwicklungsromans mit der Konzentration auf einen Helden.Die deutsche Literatur unterschied sich damit von der Literatur des europäischen Realismus, die den Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse durch die Industrialisierung in großen Zeit- und Gesellschaftsromanen verarbeitete. Balzac, Stendhal, Flaubert und Zola haben in Frankreich ebenso wie Turgenjew, Dostojewskij und Tolstoi in Russland den Roman auf einen bis heute unerreichten Höhepunkt geführt. Die Vertreter der realistischen Literaturprogrammatik in Deutschland erklärten dagegen Gustav Freytags Roman »Soll und Haben« (1855) zum Vorbild, dem das Motto vorangestellt ist: »Der Roman soll das deutsche Volk da suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit«. Wie Freytags Roman, so sind auch die zahlreichen Novellen von Paul Heyse, der zum erfolgreichsten Autor des Realismus in Deutschland wurde und deshalb 1910 als erster deutscher Schriftsteller den Nobelpreis für Literatur erhielt, heute allerdings weitgehend vergessen.Dennoch war die Literatur des Realismus reichhaltiger und vielschichtiger als seine einheitliche und meist eintönige Programmatik erkennen lässt. Dazu haben mehrere Autoren beigetragen, die trotz regionaler Schwerpunkte in ihren Werken soziale und politische Missstände nicht aus dem Auge verloren haben. Zu ihnen gehört Theodor Storm, der als Anwalt und Landvogt den größten Teil seines Lebens in Husum verbrachte. Zwar hat auch er in seinen Erzählungen, Novellen und Gedichten fast ausschließlich Ereignisse und Erfahrungen aus seiner holsteinischen Heimat verarbeitet, die sozialen Konfliktstoffe wie Armut, Aberglauben und Fortschrittsfeindlichkeit aber nicht ausgeblendet, wie seine letzte Novelle »Der Schimmelreiter« (1888) noch einmal zeigt.Einen weiteren gesellschaftlichen Horizont haben auch die Werke Theodor Fontanes, der zunächst als Apotheker in Leipzig und Berlin tätig war und dann als Kriegsberichterstatter und Theaterkritiker arbeitete, bis er schließlich in Reisebeschreibungen wie den »Wanderungen durch die Mark Brandenburg« (1862-82) sowie in vielen Romanen seine märkische Heimat und den Wandel in der stetig wachsenden Großstadt Berlin darzustellen begann. Fontanes späte Romane wie »Effi Briest (1895) und »Der Stechlin« (1899) gehören zu den wichtigsten Werken des Realismus in Deutschland, bleiben aber trotz ihrer Sensibilität für die sozialen und politischen Veränderungen einem eher konservativen Weltbild verhaftet.Auch Wilhelm Raabe, der einzige Berufsschriftsteller unter den Autoren des deutschen Realismus, hat in seinen zahlreichen und sehr erfolgreichen Romanen aktuelle Vorgänge wie den Aufstieg des Bürgertums oder die sozialen Folgen der Modernisierung verarbeitet. Dabei entwickelte er, angefangen von seinem Erstlingswerk »Die Chronik der Sperlingsgasse« (1857) bis hin zu seinem Alterswerk »Die Akten des Vogelsangs« (1896), eine mehrperspektivische Erzählweise, die die literarischen Grenzen des Realismus überschritt und die Errungenschaften der modernen Literatur vorwegnahm. Doch legte Raabe in der erzählerischen Präsentation seiner oft skurrilen Figuren und ihren nicht weniger merkwürdigen Lebensgeschichten eine Kauzigkeit an den Tag, die die spätere Rezeption seiner Romane nachhaltig behinderte.Mit den Werken von Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer hat die deutschsprachige Literatur der Schweiz einen wichtigen Beitrag zum Realismus geliefert. Während Meyers Novellen und Gedichte durch ihre symbolische Bildhaftigkeit aus der Literatur seiner Zeit herausragen, legte Keller in seinem autobiographischen Roman »Der grüne Heinrich« (erste Fassung 1854/55) und vor allem in den Erzählungen seiner Novellenzyklen »Die Leute von Seldwyla« (1856) »Züricher Novellen« (1878) und »Das Sinngedicht« (1882) sensible Mileuschilderungen vor, die nicht zuletzt wegen ihrer sprachlichen Genauigkeit und Hintergründigkeit zu Höhepunkten der deutschsprachigen Literatur wurden.Dr. Detlev SchöttkerBürgerlicher Realismus und Gründerzeit 1848—1890, herausgegeben von Edward McInnes und Gerhard Plumpe. München u. a. 1996.Dethloff, Uwe: Französischer Realismus. Stuttgart u. a. 1997.
Universal-Lexikon. 2012.